im Gespräch mit Christoph Schäfer über sein Buch “Die Stadt ist unsere Fabrik”, über Henri Lefebvre, die “Recht auf Stadt”-Bewegung, Zeichnungen und andere politische Medien, in: ZfM 3/2010, “Aufzeichnen”
Fragen von Ulrike Bergermann am 24.5.2010 im Pudel Café, Hamburg
“Die Stadt ist unsere Fabrik” ist ein anspielungsreicher Titel für ein Buch aus 158 ganzseitigen Zeichnungen. Ein Comicbuch, der Skizzenblock einer politischen Bewegung, eine Theoriebebilderung? Der Hamburger Künstler und Aktivist Christoph Schäfer erfindet eine Urgeschichte des Urbanen, setzt Henri Lefebvres Thesen zur postindustriellen Stadt um, sieht sie im Kreativpool der Gentrifizierung, mit den Laptops hinter den Latte-Bechern, mit den Skateboards der raumgreifenden Möglichkeiten einer Aneignung städtischen Raums oder in quasidokumentarischen Szenen der Hamburger “Recht auf Stadt”-Bewegung am Werk. Was hat Lefebvres “Revolution der Städte” aus den 1970er Jahren mit den entsprechenden Medienwechseln bis heute für eine Bedeutung im Hin und Her zwischen künstlerischer und politischer Repräsentation?
Aktivismus und Medienwahl
ZfM: Die Zeichnungen von Christoph Schäfer finden sich an vielen Stellen, einerseits versehen mit einer persönlichen Handschrift des Künstlers – andererseits sind sie in den Kontexten, in denen sie entstehen, aus denen sie ihre Motive und Motivationen beziehen, auch anonym, sind an der Wand, in Broschüren, auf Flugblättern, im Film zu Park Fiction mit Kreide auf Asphalt zu finden.[i] Wie ist das Verhältnis von Gebrauchsmedium und Kunst, von Quasi-Dokumentarischem und der Projektionsfläche einer Zeichnung? Wie wählt der Künstler-Aktivist sein Medium?
CS.: Die Idee mit der Asphaltzeichnung ist von Margit Czenki – und die zitiert damit eine Szene aus “Brecht die Macht der Manipulateure” von Harun Farocki, Skip Norman und Helke Sander, in der die FilmemacherInnen Diagramme auf den Boden zeichnen, die den Zusammenhang von Medien, Staat und Wirtschaft erklären.
Ich zeichne, um etwas herauszukriegen. Im Gegensatz zur Malerei ist Zeichnung bis heute kein Medium, das für die Kunst reserviert ist. Es wird auch in der Wissenschaft und vor allem im Alltag verwendet – beim Kritzeln, beim Produzieren von Telefonzeichnungen, beim Auflisten von Begriffen, spontan und temporär, und das kann ganz schnell in eine Zeichnung kippen. Auf dem Papier kann man nachdenken, sich etwas klarmachen, das in etwas anderes umschlägt, einfach mit dem Kuli, eine Gedankenskizze, man kann Begriffe und Gegenstände miteinander in Beziehung setzen, und am Ende kommt dabei vielleicht keine autonome Zeichnung raus sondern ein Text, ein Projekt oder ein Film.
ZfM: Wobei man mit sozialen Bewegungen neue Technologien und Web 2.0 assoziiert und nicht gerade das alte Medium der Zeichnung, die ja hier dann auch ‘von einer Hand’ entsteht! Wie kippt das Temporäre, Notizhafte, Laborartige darin um in ein Bild, in “etwas anderes”?
CS.: Mein Verhältnis zum Zeichnen hat sich durch die Zusammenarbeit mit der Grafikerin Katrin Bredemeier bei Park Fiction Mitte der Neunziger ziemlich verändert, als Scanner und Photoshop leichter verfügbar wurden – und die dynamische Arbeitsweise, die man beim Zeichnen erstmal haben kann, setzte sich dann beim Layout fort, wo sich das Material nochmal verflüssigt und sich weiter damit spielen lässt.
Das Tolle beim Zeichnen ist: Du schreibst einen Begriff hin, über den du gerade nachdenkst, fängst vielleicht an, den zu aquarellieren, den Text in Zeichnung kippen oder dreidimensional werden zu lassen, den Begriff in einem räumlichen Gefüge zu positionieren, ihm physisches Gewicht oder Leuchtkraft zu geben – und ob der wichtig ist oder wie wichtig er ist, ist sofort zu sehen. Ich kann bei allen Zeichnungen sagen: Ist es eine, bei der ich etwas heruntergebrochen dargestellt habe, oder ist es eine, bei der ich etwas herausbekommen habe? Diese Schwelle – zwischen “ein Produkt herstellen”, “absichtsvoll eine Bildidee umsetzen” und “etwas herauskriegen” – kann beim Zeichnen lange in der Schwebe bleiben. Potentiell kann eine Zeichnung der Zielgerichtetheit und instrumentellen Verwendung bis zur letzten Sekunde entkommen. Das geht mit dem Computer nicht so gut. Auch nicht mit einem Text in Linien.
ZfM: Ziel des Tricks wäre also, hinter der Schwelle verschiedene Dinge finden zu können und nicht schon auf eine bestimmte Sache loszugehen, oder: den Möglichkeitsraum auszudehnen.
CS.: Genau. Man muss die Ebenen wechseln. Steht da ein Begriff, dann kann ein anderer Begriff kommen, diese lassen sich verbinden mit Linien, und ich muss in dem Moment nicht mal ausrechnen, ob ich das aus formalen Gründen mache – das Denken verändert sich in dem Moment, es ist auf eine komische Art offener. (Abb. 1) Manche Diskussionen dagegen fahren sich fest, lassen keine weitere Komplexität oder unabsehbare Entwicklungen mehr zu.
Meine Zeichnungen sind nicht so schwarz-weiß, sie könnten ja mehr Kontrast haben. Die politische Zeichnung in den letzten 200 Jahren setzte immer mehr auf den harten Kontrast und auf das Verschwinden der Handschrift, auf das Unsichtbarmachen der Hand, auf das Verschwinden von Körperspuren. Ähnlich wie in der konzeptuellen Kunst, aus Motiven wie Arbeitsverweigerung oder um der Fetischisierung als Genie zu entkommen. Aber gerade die Konzeptkunst ist zu einem neo-aristokratischen Stil, einem elitären Code verkommen, der im totalisierten, immateriellen Kapitalismus keine Widerständigkeit mehr entwickeln kann. Ich versuche da einen anderen Weg zu gehen. Jetzt beim Buch kam eine technische Innovation dazu: die Frequenzmodulierte Rasterung, in der die Druckpunkte stochastisch angeordnet werden. Dadurch sieht man überhaupt keine Rasterung im Druck mehr. Die Zeichnungen sind mit Aquarellstiften gemacht, und dann sind erstens die Scans von hervorragender Qualität und zweitens die Farben und Verläufe im Druck ganz exakt wiedergegeben. Am Ende des Prozesses hat das Buch wieder etwas sehr direktes und zugleich eigentümlich Altmodisches.
ZfM: Das kann man in Korrespondenz zum Buchthema lesen: Der Charakter der Handarbeit verweist auf eine Produktionsweise, mit dem angespielten Henri Lefebvre gesprochen: eine “Fabrikation”, die mit Assoziationen von “Fabrik” zu tun hat.[ii] Dazu gleich – zunächst noch eine Frage zur Produktion von Raum.
Das Bild als Raummaschine
ZfM: Hier gibt es verschiedene Arten von Raum auf 2D. Es gibt eine Strecke von Zeichnungen mit dem entfalteten Gehirn, es geht darum, dass Denken räumlich ist, um den Umschlag von Medien und wie man über die Entstehung von Abbildung nachdenkt (Abb. 2); in anderen Bildern gibt es kartografische Linien, Raster wie auf Karten, Achsen der Stadt, das späte Paris, Koordinatenkreuz und Windrose (Abb. 3). Navigationsmittel und Navigiertes sind formal ganz eng beieinander. Oder bei den Skatern, die Linien durch die Stadt ziehen (Abb. 4): Sozialer und geografischer Raum sind durch die gleichen Linien und Striche aufgespannt.
CS.: Das ist eine Referenz an den mexikanischen Maler David Alfaro Siqueiros, den revolutionären Maler des Muralismo, der Wandmalerei, die hierzulande leider vor allem auf der Folkloreschiene von Diego Riviera bekannt ist. Siqueiros hat aber einen übersehenen konzeptuellen Beitrag zur Moderne geleistet mit der Arbeitsthese, das Bild müsse wie eine Maschine funktionieren. “Maschine” nicht im Sinne einer Wunschmaschine nach Deleuze/Guattari, sondern das Bild eines revolutionären Künstlers sollte eines sein, das vom Betrachter in Betrieb gesetzt wird – wie die Maschine vom Arbeiter. Die polyangulare Malerei arbeitet an öffentlichen Wänden mit verschiedenen Perspektivpunkten, die in einem Bild untergebracht sind (Abb. 5): Wenn man durch den Raum geht, sollten unterschiedliche Perspektiven auf das Bild ermöglicht werden, das Bild sollte sich verändern, anders als das den Betrachter auf einen Stand- und Blickpunkt fixierende zentralperspektivische, bürgerliche Gemälde. Dieses Bild wäre eine Maschine, weil der Betrachter mit ihm im marxistischen Sinne arbeitet – produziert.
ZfM: Dein Buch ist nicht polyperspektivisch, sondern funktioniert recht linear von vorne nach hinten, fängt an mit der Geschichte der “Stadt Ur” und endet in der urbanen Gegenwart.
CS.: Streng pseudolinear. Ich liebe lineare Techniken, muss ich sagen. Synchronoptische Darstellungen der Weltgeschichte auf stur durchgehaltenen Zeitleisten mit ihrer universellen Wahrheitsbehauptung fand ich immer toll. Dieser Überblick! Ich mag Techniken, die Sachen komprimieren. Das wirkt linear, festgelegt, schubladisiert, aber die Kürze eröffnet gleichzeitig assoziative Möglichkeiten des Hin- und Her-Springens. Auch wenn der Universalismus berechtigterweise kritisiert wurde, ermöglicht so eine streng schematische Darstellung, dass man Ereignisse auf unterschiedlichen Kontinenten miteinander in Bezug setzen – und damit auch Genealogien – wie den Eurozentrismus – relativieren kann. Mein Buch stellt ja zunächst die Behauptung auf, ganz grundsätzlich zu definieren, was eigentlich eine Stadt ist, was die “Urbane Revolution” sein könnte und wohin sie zielt. Gleichzeitig arbeitet das Buch gegen diese Linearität an, es gibt ja dauernd Vor- und Rückgriffe.
Das genaue Gegenmodell zum linearen Erzählstrang ist das Skateboard. Ein Brett mit Rollen ist etwas ganz Grundsätzliches. Man muss etwas damit tun, und man muss viel können, damit etwas passiert. Man hätte das Terrain der RollbrettfahrerInnen – Parkplätze, betonierte Rampen, leere Swimmingpools, abstrakte Skulpturen im Außenraum – in der klassischen linken Theorie auch nach ’68 unter “entfremdet” einsortiert. Genau das ist aber der Startpunkt des Skateboardings: ein “entfremdeter”, gesellschaftlich normierter, funktional festgelegter Ort, der durch das Rollbrettfahren umdefiniert wird. Das ist “urbane Praxis” – so soll ein Werk funktionieren, finde ich: Mit dem Rollbrett besetzt man etwas, und man schafft neue Perspektiven, kollektiv, in einer maschinellen Verkettung.
Werke und Produkte
ZfM: Ich glaube, dass die Slogans “Recht auf Stadt”[iii] und “Die Stadt ist unsere Fabrik” deswegen so gut funktionieren, weil sie einen nostalgischen Charakter haben: Da wusste man noch, was Arbeit ist! Da wusste man noch, wo die Fabrik steht! Andererseits sind sie metaphorisch besetzbar, man kann die “Fabrikation” auf alles mögliche beziehen. Allerdings könnte man sich fragen, was mit der immateriellen Arbeit ist, mit der Beziehungsarbeit und der Hausarbeit – ist die Stadt auch eine Fabrik fürs Immaterielle? Sie hat ja auch nichtproduzierende Bereiche. Es gibt auch Nichtarbeit, Faulheit und Verweigerung.
CS: Das Drama ist ja, dass gerade diese Felder – die Faulheit, der Müßiggang oder künstlerische Arbeitsweisen, die nicht in Stunden abrechenbar sind – der Ausgangspunkt des veränderten, “verstädterten” Produktionsparadigmas sind. Die Nachteile der Begriffe “Produktion” und “Fabrik” sind ihre Verbindung mit der Warenproduktion, mit der Entwicklung des Nationalstaats – sie können nicht mehr beschreiben, was Handeln sonst sein kann, soziales oder poetisches oder symbolisches Handeln. Aber es gibt jetzt schon in Kinderläden oder bei Projekten, die wie Park Fiction mit Wunschproduktionen operieren, andere städtische Produktionsweisen. (Abb. 6)
ZfM: Vor fünfzehn Jahren schon bezog sich das Projekt Park Fiction direkt auf Lefebvres “Die Revolution der Städte”[iv], und heute geht das Konzept “Recht auf Stadt” auf sein “Le droit à la ville” zurück.[v] Nach dem Häuser- und Klassenkampf geht es jetzt um öffentliche Güter inklusive der immateriellen Werte wie Raum, ‘Urbanität’, dem Image einer Stadt als Wirtschaftsfaktor. Die Kulturproduzenten tragen zum Imagefaktor beispielsweise der “Marke Hamburg” bei.[vi] Die Frage nach Partizipation war lokal, wenn auch exemplarisch. Wenn jetzt die Stadt unsere Fabrik ist, hätte man einen Quantensprung an Größenordnungen gemacht, die Kapitalismuskritik runderneuert: Wir verteilen unsere Flugblätter nicht mehr vor den Toren der Fabrik, sondern in der Stadt, die unsere Fabrik ist, oder weiter: Da wir alle Teil der Stadt sind, als Produzenten von Waren, Dienstleistungen und als digitale Bohème, als BeziehungsarbeiterInnen oder raumproduzierende NutzerInnen von öffentlichen Orten. Wie wandelt sich der Bezug auf die Stadt, wo es nicht mehr um ein Stadtteilprojekt geht, sondern um ganz andere Größenordnungen?
CS.: Vor unserer Zeit war die Fabrik der Ort, an dem Wert geschöpft wurde, jetzt ist es die Stadt, und damit ist auch die Kunst wieder in Wertschöpfungszusammenhänge gerutscht. Man kann sagen, “das Kreative” ist der fortgeschrittenste Sektor des Kapitals geworden. Die “kreative Klasse” ist viel größer als von Richard Florida gedacht, denn auch die Fabrikarbeiter müssen “kreativer sein” als gedacht, flexibler und selbstverantwortlicher. Florida denkt nur an bestimmte Eliten, aber es geht auf allen Ebenen der Gesellschaft bis in die prekärsten Ebenen um ähnliche Prinzipien. Das hat aber auch eine positive utopische Seite, in der Aufwertung des Immateriellen, der Zuwendung, der Poesie – wie angedeutet im Prinzip “Als Dichter wohnen”. (Abb. 7) Der Knackpunkt ist nur, dass die Fragen der Verteilung und die der Selbstbestimmung weiter ungelöst sind.
ZfM: Nachdem man in Deinem Buch die Geschichte der Stadt gelernt hat bis zur Lattemacchiatorisierung (Abb. 8), so heißt es dort, hätte es ewig so weiter gehen können, bis sich das Netzwerk “Recht auf Stadt” zusammenschließt, dessen einzelne Initiativen und Aktionen dann wie in einem Hamburger Bewegungstagebuch festgehalten werden. Welchen Stellenwert hat dieses letzte Kapitel, sind diese Aktionen exemplarisch für die ganze Theorie von vorher? Der allerletzte Abschnitt endet im Subjektiven, Du gehst mit ein paar Kumpels einen trinken.
CS.: Nun ja, an dem Abend war das Rauchen eigentlich wichtiger als das Trinken… Wir haben an sehr spezifischen Orten gesprochen und nachgedacht – angefangen hat alles in einer benjaminesken Situation, in der verglasten Aussichtskanzel von McDonalds, die über den Gleisen des Hamburger Hauptbahnhofs schwebt – ein Abend mit viel Hin und Herschieben von Begriffen, Ausprobieren, Umherlaufen, zwischen nicht mehr zugänglicher Stadt und schon fast wieder utopischen Orten, man könnte abstrahierend sagen: mit mikropolitischen Alltagserfahrungen. Niels erzählte von der neuen Idee des Fab Lab mit 3D-Druckern, das jetzt gegründet werden soll, und ich warf zum ersten Mal die These in den Raum: Die Stadt ist unsere Fabrik.
Kollektivzeichnen und Verfänglichwerden
ZfM: Das Buch hat eine Leichtigkeit, obwohl es groß ist; die Bilder haben etwas Skizzenhaftes, mobil Einsetzbares, nomadisch Entstandenes. Gleichzeitig sind sie Elemente in einem fixierten auktorial strukturierten Diskurs, und ein möglicher Vorwurf könnte die Aneignung eines ehemals partizipatorischen Prozesses mit Blick auf die nächste Documenta-Teilnahme unterstellen.
CS: Als ich diesen Zeichenstift entdeckt habe, habe ich auch entdeckt, dass man A3-Zeichnungen im Copyshop hier um die Ecke sehr leicht scannen und ausdrucken kann und habe das sofort für Vorträge, Broschüren usw. eingesetzt. (Abb. 9, 10) Das Buch war zunächst als “Lefebvre for kids” geplant und nicht als Buch zu einer Bewegung, deren Anrollen damals ja noch kaum absehbar war. Nun konnte ich mit den Zeichnungen Vorträge im “Recht auf Stadt”-Kontext halten und damit Lefebvre-Begriffe anders unterfüttern, also für den Austausch verwenden. Es gibt keine reine Form, die völlig frei wäre von einer möglichen Verwertung.
ZfM: Bei Deinem Vortrag am MIT[vii] hattest Du noch ein weiteres Argument: das der Zeit. Während eine Bewegung produziert, stellt sich das Problem weniger stark, aber sobald die Arbeit anfängt, ins Archiv zu rutschen, fragen Medien nach erkennbaren Personen aus der Gruppe, nach Autornamen und Verschlagwortungsmöglichkeiten.
CS: Das ermöglicht natürlich auf der einen Seite, spannende, exemplarische und anfassbare Biografien zu rekonstruieren, aber es entkollektiviert, das ist das Problem an der Sache. Das kann nicht nur im historischen Rückgriff, sondern schon während der Produktion selbst passieren: Das Recht auf Stadt-Netzwerk hat für seine Plakate immer verschiedene KünstlerInnen angefragt, gerade auch um eine zu starre Gruppenidentifizierung symbolisch nach außen zu öffnen, was mit dem ersten Plakat von Stefan Marx (Neon auf Schwarz in zwei Varianten) sehr gut gelungen ist. Beim zweiten Recht auf Stadt-Plakat ergab das leider nur noch übereinandergestapelte Unverfänglichkeiten, eine neutrale Schrift, ein neutrales Technogitter (Abb. 11) – eine zu lange Diskussion ergab ein Abschleifen der Verfänglichkeiten.
ZfM: Ziel wäre also: verfänglich werden? In der Wissenschaftsforschung gibt es Konzepte wie “unscharfe Begriffe” oder auch das “epistemische Ding”, deren Produktivität darin liegt, dass sie nicht ausdefiniert und gefüllt sind, ein leerer Kern für die notwendige Offenheit im Erkenntnisprozess, der nur dann etwas Neues hervorbringt, solange noch etwas im Ungedachten ist, es noch die Möglichkeit gibt, dass es anders endet als gedacht. “Stadt” funktioniert gerade extrem gut als unscharfer Begriff – und diesen verfänglich zu machen, das wäre ein Programm. Eine gute Fabrik.
[i] Park Fiction ist ein Projekt auf Hamburg-St. Pauli, das als Stadtteilinitiative gegen die Hafenrandbebauung in den 1990er Jahren Anwohnerpolitik mit Kunst im öffentlichen Raum verband, einen selbst entworfenen ‘Park’ durchsetzen konnte und seit der Dokumenta 11/2002 überregional bekannt wurde, vgl. Uwe Lewitzky, Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität, Bieieleld (transcript) 2005, 113ff.; Bettina Uppenkamp, Park Fiction: Subkultur und Gartenkunst in St. Pauli, Kunsthistorikertag Marburg, 27. März 2009, unveröff. Manuskript; Christoph Schäfer und Cathy Skene mit dem Hafenrandverein, Aufruhr auf Ebene P, www.parkfiction.org/2006/01/111.html, 12.12.1995 (ges. am 20.5.2010); Video 1996/2002: Park Fiction … die wünsche werden die wohnung verlassen und auf die straße gehen, (Documenta 11, 2002), 16mm-Blowup von Super 8 auf DVD, 61 min., Buch, Regie, Montage: Margit Czenki; Texte und Zeichnungen: Christoph Schäfer, Kamera: Martin Gressmann/Margit Czenki, Musik/Toncollage: Ted Baier, Schorsch Kamerun; Ton: Kay Engehardt; Schnitt: Margit Czenki/Judith Lewis; mit Fotografien von Marily Stroux und Hinrich Schulze, schwimmenden Tieren von Daniel Richter, Zeichnungen von Andreas Siekmann; Darst.: Park Fiction Aktivistinnen, Der schlaue Hafenrandverein, Eric Boateng, Simone Borgstede, Katrin Bredemeier, Renée Cura, Zina Dimintrioux, Bernd Ehemann, Schorsch Kamerun als Vertreter, Sanah Masoud, Kudet Mike, Leonid Rossine, Christoph Schäfer, Ellen Schmeißer, Andreas Siekmann, Sabine Stövesand, Canan Topel, Annette Wehrmann u.a. – Webseite: www.parkfiction.org/.
[ii] Henri Lefebvre, Le droit à la ville, Paris (Anthropos) 3. Aufl. 2009 (zuerst erschienen Paris 1968, geschrieben: Paris 1967, “am Jahrestag des Kapitals”); Fernand Mathias Guelf, Die urbane Revolution. Henri Lefèbvres Philosophie der globalen Verstädterung, Bielefeld (transcript) 2010; eine kritische Zusammenfassung (wiederum mit Kommentaren von Schäfer) findet sich unter: strickliesel, Zurück zur Fabrik? Lefebvre # stricken IV, im Blog [von Nicole Vrennegor] zu Urbanität und Gentrifizierung unter:
http://schaetzchen.blogsport.de/2009/12/30/zurueck-zur-fabrik-lefabvre-stricken-iv/, 30.12.2009, zuletzt gesehen am 8.7.2010.
[iii] “Recht auf Stadt” (RaS) ist ein Netzwerk aus 25 Hamburger Initiativen, die sich für bezahlbare Mieten, die Erhaltung von öffentlichen Grünflächen und eine demokratische Stadt einsetzen, siehe: www.rechtaufstadt.net/; eine ausführliche und breit recherchierte Chronologie findet sich unter http://de.indymedia.org/2010/02/272428.shtml; vgl. auch: Es regnet Kaviar, Aktionsnetzwerk gegen Gentrifizierung in St. Pauli, http://esregnetkaviar.de/ sowie den Dokumentarfilm “Empire St. Pauli – Von Perlenketten und Platzverweisen”, Hamburg 2009, 85 min., Regie: Irene Bude, Olaf Sobczak, produziert von Steffen Jörg – GWA St. Pauli; www.empire-stpauli.de/.
[iv] La révolution urbaine, 1970, vgl. “Aufruhr auf Ebene P”: aus der Ebene P wie privat – unter den Ebenen G/Global und M/Mitte – entspringe die Revolution der Städte, die vom Wohnraum ausgehen werde, so Lefebvre.
[v] Die Stadt sei “eine Maschine der Möglichkeiten”, lässt sich dort lesen; ein weiteres kritisches Re-reading unternimmt die Politologin und Aktivistin Nicole Vrennegor in ihrem Blog (vgl. strickliesel, Zurück zur Fabrik?). Den Slogan “Die Stadt ist unsere Fabrik” könne man zwar aus Lefebvres “Die Revolution der Städte” ableiten, schreibt Schäfer hier, aber er habe es eher von den italienischen Operaisten und Post-Operaisten übernommen, von Negris “la città e una fabbrica diffusa” von 1972.
Genau gelesen, lässt sich die Stadt als “unsere Fabrik” allerdings nicht unmittelbar anschließen. Erstens schreibt Lefebvre explizit: “il n y a pas de ‘nous'”, und wenn er “wir” schreibt, setzt er es in Anführungszeichen (Lefebvre, Droit à la ville, 99 et passim), also: es gibt nicht “unsere” Fabrik. Zweitens geht er 1967 von ‘der Arbeiterklasse’ aus, der ‘die Philosophen’ und ‘die Künstler’ entgegengestellt werden; diese haben in der Revolution besondere Aufgaben, auch wenn Kultur immer stärker Teil der Wertökonomie werde, denn die Arbeiterklasse habe zunächst einmal keinen Sinn für das Welrk (oeuvre), sie kenne nur das Produkt (produit), aber Philosophie und Kunst seien hilfreiche Vermittler (143). Insbesondere sollte die Kunst “den Raum verzeitlichen”, um ihn der Ökonomisierung zu entziehen, und das könne am ehesten die Musik (124). Drittens ist am Anfang des Buchs zwar noch die Rede davon, die Stadt sei ein Modell für die Fabrik der alten und der neuen Kapitalisten (45), aber schließlich heißt es sogar explizit, dass für die neue Urbanität weder der Staat noch die Fabrik mehr die Modelle abgäben (132).
[vi] Vgl. das Manifest, das diesen Zusammenhang reflektiert und kein Beitrag zum urbanen Standortmanagement sein will: “Not in our name, Marke Hamburg!”, von Ted Gaier, Melissa Logan, Rocko Schamoni, Peter Lohmeyer, Tino Hanekamp und Christoph Twickel für die „Not in Our Name, Marke Hamburg“-Initiative, November 2009,http://nionhh.wordpress.com/about/, zuletzt gesehen am 17.7.2010.
[vii] “The City is our Factory: Politics of desire and the production of urban spaces between Grande Latte and Park Fiction”, MIT Cambridge, USA, 28.9.2009, Onlinestream unter http://techtv.mit.edu/collections/vap20:834/videos/4174-christoph-schaefer—factory-city, zuletzt gesehen am 17.7.2010; Moderatorin Ute Meta Bauer nennt Schäfer, der in seiner Präsentation eigene Zeichnungen und Flugblätter und Aktionsfotos abwechselt, einen “embedded artist”.