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Eines der meistbesuchten (und getwitterten) Kunstwerke der letzten Istanbul Biennale ist das Bostanorama von Christoph Schäfer. Zeichnend und notierend streifte der Künstler 2013 durch das Istanbul vor und nach den Erschütterungen um occupygezi, um die Besetzung und gewaltsame Räumung des Gezi Parks. Jetzt zeigt der Hamburger den kompletten Zyklus aus Großzeichnungen und Tagebuchseiten in einer Einzelausstellung im Selekta Studio One.
Installationsfoto Bostanorama @Selekta Studio 1: Frank Egel (c)
Anlass ist die Verleihung des Edwin Scharff Preises 2014 des Hamburger Senats an den Künstler. Der wurde durch seine Arbeiten im öffentlichen Raum, das auf der Documenta11 (2002) ausgestellte, kollektive Projekt Park Fiction, durch sein Buch Die Stadt ist unsere Fabrik (Spector Books, 2010) einem internationalen Publikum bekannt, und kuratierte im vergangenen Herbst den Salon Public Happiness in der Wiener Secession.
Eröffnung 19. Februar, 20 Uhr
Laudatio: Fulya Erdemci, Kuratorin, 13th Istanbul Biennial
Ausstellung 20. Februar – 21. März
Do – Fr 15 – 20 Uhr, Sa 13 – 20 Uhr
Selekta Studio 1 – Bernhard Nocht Str. 67 (Sylvin Rubinstein Haus) – 20359 Hamburg – St. Pauli
Als Teil der Ausstellung erscheint eine 16-seitige Zeitung mit großformatigen Zeichnungen und Texten in Deutsch, Englisch und Türkisch, herausgegeben von Spector Books und als Sonderbeilage der März Ausgabe der READ.
Bilder für Pressezwecke in hoher Auflösung hier:
http://1drv.ms/1BQfGak
Dies ist ein Erdbeben im kollektiven Unbewussten der Türkei.
Jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Jeder ist ein Philosoph.
Die Leute haben Risse und Sprünge, die ihre Körper durchziehen.
Diese Risse sind aufgebrochen.“
Bostanorama: Göksun Y. in einem Gespräch mit Christoph Schäfer, Juli 2013
Verdächtiges Brachland / Erhabene Ästhetik als Abstandsgrün, 2013
„The first day of police attacks against the park, my sister went. I had to look after my little brother. She came back at six in the morning and only when we saw on twitter and facebook… we got an idea, of what was going on. I wanted to go the next day, and talked with my Mum. “As a mother”, she said, “I want you to be safe, I care for you and I should tell you to stay home. But as a citizen of this country – you have to go.” That was like “Wow!” to me – if she says that, there is really something serious going on. (…) I don’t like violence and never threw a stone at the police. But when I arrived , barricades were everywhere, cars were burning… It was necessary.
Without the damage, no one would listen to us! I am thankful for that! We had to go public.”
Bostanorama: Notiz eines Gesprächs mit einer Istanbuler Studentin, Juli 2013
Im Bostanorama zeichnet Christoph Schäfer eine politische Geschichte der Stadt Istanbul – durch ihre Gärten, Parks und Stadien. Schäfer verwendet Gärten wie ein Vergrößerungsglas, durch das hindurch die Widersprüche, Ideologien und Konflikte in Istanbul sichtbar werden. Die Metropole am Bosporus hat unter der Osmanischen Herrschaft eine hedonistisch geprägte Alltagskultur hervorgebracht, und Gärten des irdisch-sinnlichen Genusses. Diese hedonistische Alltagskultur (die lange Zeit als Fortschrittshindernis und als apolitisch verstanden wurde), ergriff mit der Besetzung des Parks den öffentlichen Raum, und erweiterte dessen Möglichkeiten, machte ihn zum Ort der Versammlung, des Widerstands, des gemeinsamen Genusses, des Austauschs, der utopischen Neuerfindung von Stadt und Gesellschaft. Nach Ansicht des Künstlers hat occupygezi für die emanzipatorischen Bewegungen weltweit etwas ganz Neues entdeckt. Vielleicht aber auch etwas sehr ursprüngliches wieder entdeckt: nämlich das, was Hanna Arendt zu Folge, die amerikanischen Revolutionäre und Verfassungsväter um Thomas Jefferson, public happiness nannten.
Der Titel Bostanorama verweist einerseits auf die „Bostans“, kleine urbane Gemüsefarmen, städtische Nutzgärten, häufig angelegt in den Ruinen des alten Byzanz, die seit rund tausend Jahren in den Stadtmauern Istanbuls überlebt habe (und die derzeit zerstört und bebaut werden); andererseits auf die historischen Panoramen, jene Vorläufer des Kinos, die sich im Neunzehnten Jahrhundert verbreiteten, und die bis heute eine wichtige Rolle in der Konstruktion nationaler Identität oder bei der Verherrlichung militärischer Siege spielen.
Schäfer bearbeitet das Beeindruckungsformat Panorama, zerlegt und unterläuft den Anspruch der Metaerzählung, mit Weisheit, Witz und Imaginationskraft, die dem Alltag entspringt.
Installationsfoto Bostanorama @ Selekta Studio 1: Frank Egel (c)
Stimmen zu Bostanorama:
Schäfer’s drawings depict intriguingly bizarre, parallel social situations gleaned from interviews and other encounters, and aim to reimage an aesthetic of community, markedly different to corporatised artists’ impressions in content and execution.”
Tom Snow, Afterall
“With this in mind, perhaps the most resonant work of the whole biennial was that of Hamburg artist, Christoph Schäfer, whose large scale conceptual drawings of the movements during the Gezi park occupation, Bostanorama, exemplify attempts by artists, to effect social change by using recent happenings, to add weight to their arguments. Works such as this or Halil Altinderes film “Wonderland”, capture a true sense of activism in contemporary art.”
Miriam Stoney, Vulture Magazine, Dec. 4, 2013
Stimme der Jury:
„Mit der Verleihung des Edwin-Scharff Preises 2014 wird Christoph Schäfers künstlerisches Werk in seiner Gesamtheit gewürdigt. Dass künstlerische Wirksamkeit in seinem Fall nicht auf einer reinen Atelierproduktion basiert, zeigt auch die verschobenen Parameter in der zeitgenössischen Kunst an.“
„Christoph Schäfer steht explizit für ein zeitgemäßes Rollenmodell im Grenzbereich der autonomen Kunst, das von dort sowohl kunstimmanent als auch gesellschaftlich neue Impulse setzen kann. Sein Studio ist der urbane Raum (als städtisches Gesamtwesen), den es mit subversiven Interventionen und auch nachhaltiger Planungskreativität lebenswert zu verbessern gilt – im Sinne und mit Beteiligung seiner BewohnerInnen. Dass künstlerische Kompetenzen durch soziale Kreativität ganz andere konstitutionelle Durchsetzungsqualitäten besitzen können, hat dieser Künstler mehrfach eindrucksvoll bewiesen“
„Etwas zu Unrecht wird Christoph Schäfer in erster Linie als Initiator mit dem international bekannten Kunstprojekt „Park Fiction“ (Documenta 11, 2002) identifiziert. Von der Idee bis zur Realisierung war er hier einer der maßgeblichen Protagonisten. Dass Christoph Schäfer hier und in einer Vielzahl weiterer Projekte – neben diesem überaus beachtlichen kulturpolitischen Durchhaltewillen -, sich eine sozusagen verspielte direkte Art Kunst zu machen, erhalten hat, ist nicht hoch genug einzuschätzen.
Die sogenannte reine Kunstproduktion von Christoph Schäfer (z.B. Die Stadt ist unsere Fabrik, Spector Books, 2010), auch wenn sich das selbstbedingt nicht trennen lässt, wird nach wie vor unterschätzt.
Mit seiner Teilnahme auf der letzten Istanbul Biennale (2013) deutet sich hier bereits im internationalen Rahmen eine angemessene Neubewertung an.“
Jurybegründung zur Preisvergabe, 2014
Christoph Schäfer bei der Arbeit an Bostanorama, Istanbul 2013